VÖLVA - Die Magie der germanischen Seherinnen

Uralte Höhlenzeichnungen sind stille Zeugen einer mindestens ebenso uralten Kultur… Vogelstäbe, Mischwesen aus Mensch und Tier, überdimensionale Geweihe, Ekstase, Erektionen, Jagdszenen, wandernde Herden - so lebendig im Stein erfasst, als bewegen sie sich - rufen ehrfürchtiges Staunen heutiger Kunsthistoriker und Wissenschaftler anderer Gebiete hervor. Handabdrücke in Ocker. Schatten an den Wänden. Unsere Ahnen haben uns Bilder hinterlassen, die von uns wie „Geschenke“ ausgepackt und bestaunt werden können.

 

Die ältesten bisher geborgenen beweglichen Kunstwerke schamanischen Ursprungs stammen aus den Höhlen der Schwäbischen Alb und sind über 40.000 Jahre alt. Obwohl Schamanentum häufig eher als exotisch betrachtet und Gebieten und Kulturen in Nordamerika, Sibirien oder der Mongolei zugeschrieben wird - fand der „Kult-Ur-Sprung“ (sehr empfehlenswert ist hierzu ein Buch gleichen Namens, das mich seit ein paar Jahren begleitet) in der Region statt, die heute Deutschland ist. Mit Blick auf diese Funde ist es für mich Grund genug, nach unseren Wurzeln der Spiritualität zu forschen, zumal ich mich einfach auch sehr als Europäerin fühle. Was in anderen Teilen dieser Welt noch lebendiger erscheint oder in ungebrochener Tradition kraftvoll erlebbar sein kann, erinnert uns daran, wie es hier bei uns vor über 2.000 Jahren war. Diese Erinnerungen klopfen an, wecken Sehnsucht und bringen so manches Mal einen romantisch verklärten Blick mit sich - sei es auf die exotischen Kulturen oder die letzte Phase lebendiger Naturspiritualität in germanischen oder keltischen Teilen Europas.

 

 

Naturspiritualität als Selbsterkenntnis

 

 

Alle Höhlenmalereien, alle Kunstwerke mit schamanischen Einflüssen, all das, was man als Naturspiritualität zusammenfassen kann, hat seine Grundlage in der achtsamen und wachsamen Beobachtung der Natur. Je mehr wir die Natur beobachten und beginnen, sie zu verstehen, desto mehr erkennen wir uns selbst - denn wir sind ein Teil von ihr. Wir selbst sind Natur.

 

Die Natur befindet sich in einem dauerhaften Zusammenspiel, einem Fließen zwischen Fülle und Stille, Ebbe und Flut, Wachstum und Veränderung. Aus den achtsamen Beobachtungen dieser mal lauten und mal leisen Zusammenspiele entstanden erste Künste. Kreativität erwachte und wollte sich ausdrücken, in Musik, Tanz, Gesang, Malerei, der Gestaltung von Skulpturen und Talismanen, und es entstand ebenso Divination, Weissagung, Prophetie. Sei es zur Vorhersage des Wetters, der Herdenwanderungen oder des persönlichen Weges.

 

Es gab jene, die jagten, die, die sammelten und auch die, die kochten, die Kinder behüteten und die Gemeinschaft zusammenhielten. Aus der Mitte der Gemeinschaft gab es dann jene, die sich durch eine Andersartigkeit (zum Beispiel die Fähigkeit sehr schnell in Trance zu geraten) von den anderen unterschied und diese Fähigkeit oder Eigenschaft vertiefen und ausbauen durfte. Nach und nach entfernte sich diese (zumeist) weibliche Person aus der Gemeinschaft und zog sich in eine Hütte zurück, um dort tief in die Stille und die Natur einzutauchen und ihre Sinne wach und präsent zu halten. Von hier aus trat sie Reisen in die Anderswelt an und ebenso durchstreifte sie die Wälder und lernte von den Bäumen, den Tieren des Waldes, den Elementen, den Gestirnen… Enge Naturverbindung und geistige Klarheit sowie die Fähigkeit zur Trance formten die Rolle der Völva in der Gemeinschaft. Diese „Berufsbezeichnung“ beinhaltete sowohl die Fähigkeiten der Seherin, Prophetin, Wahrsagerin, als auch die der Priesterin, Schamanin und Ritualleiterin, die der Kräuterkundigen und Hebamme, der Zauberkundigen, Hexe und Heilerin. Sie war hoch angesehen und ihr Wort hatte Gewicht. Davon zeugt noch heute unser Begriff „jemandem huldigen“ - denn die „trollalte Huld“ und später „Völvahuld“ war die Bezeichnung für eine Zauberin oder Seherin. So war sie also häufig die gefragte Beraterin, die man für persönliche und die Gemeinschaft betreffende Fragen zurate zog. Sie war durch ihre Wanderungen in den Wäldern und jene in den Anderswelten des Netzes des Lebens kundig und ebenso, wie sie darin verbinden konnte, was zusammengehört, und trennen, was gelöst werden musste. Sie konnte im Lebensnetz weben und so manchen Faden aufnehmen und hineinweben - um etwas der Gemeinschaft Dienliches zu erwirken.

 

 

Europäisch indigen - Leben im Heiligen Hain

 

 

Erst Julius Caesar unterschied in etwa ab der Main-Linie und dem dortigen undurchdringlichen Wald die Kelten und Germanen. Auch wenn die Germanen aus sehr vielen Stämmen bestehen, kann man doch pauschal sagen, dass sowohl „die Germanen“ als auch die Kelten eine tiefe Naturspiritualität und eine Verbundenheit mit Mutter Erde lebten. Es gab zunächst keinerlei Götterbildnisse oder Tempel - der Tempel war die Natur. Der Heilige Hain. Ähnlich, wie manche Berichte von heutigen Indigenen, zeichnen auch die beschriebenen Beobachtungen der damaligen Indigenen Europas ein sehr wildes und unzivilisiertes Äußeres und Benehmen.

 

Die meisten Quellen über die Germanen entstanden erst im 10./11. Jahrhundert und waren natürlich von ihren Beobachtern eingefärbt. Und die Edda ebenso wie die Prosa-Edda (auch „Jüngere Edda“ oder „Snorra-Edda“ genannt), der älteste erhaltene Stabreim zur nordgermanischen Mythologie, wurden im 13. Jahrhundert jeweils von einem Isländer (im christianisierten Island), geschrieben. Man beschrieb unter anderem bei den Semnonen und den Brukterern jeweils eine wichtige sogenannte Völva. Eine germanische Seherin, die wie schon beschrieben hohes Ansehen genoss und einige Talente in sich vereinte. Bei den Semnonen kennt man aus dem 2. Jahrhundert Waluburg (siehe unten: Walas = der Stab, wichtigstes Symbol einer Völva). Der Name einer weiteren bekannten Seherin der Semnonen ist Ganna und ähnelt vermutlich nicht zufällig dem altnordischen Gandr (= Zauberstab). Sie wirkte gegen Ende des 1. Jahrhunderts und folgte auf Veleda (vom keltischen Wort veld = sehen) vom Stamm der Brukterer, die im heutigen deutschsprachigen Raum wirkte und laut Zeugnissen in der Gegend um Lippe in einem Turm gelebt haben soll. Dort zog sie sich zurück, um ihre klare Sicht zu erhalten. Zudem ist aus der Germania von Tacitus Albruna bekannt, „die mit dem Geheimwissen der Alben Versehene“. Die wohl bekannteste Völva ist Heiði aus der Völuspá oder Voluspá, der „Weissagung der Seherin“ oder „Prophezeihung der Völva“. Dieses bedeutende Gedicht des nordischen Mittelalters berichtet von der Schöpfungsgeschichte bis zu Ragnarök, dem Weltuntergang und einer gleichzeitigen Neuentstehung.

 

 

Die Stabträgerin - eine unabhängige Frau

 

 

Das zentrale Symbol der Völva war ein Stab (Wala, Walas = der Stab) und so kennzeichnete ihr Name sie als „die Stabträgerin“. Mit diesem Stab streifte sie in den Wäldern umher und sie nutze ihn auch zu rituellen Zwecken in dieser und der Anderswelt, um Ordnung ins Chaos zu weben und Balance zu schaffen. Er gilt als wichtigstes magisches Instrument und als „Zeichen des Berufsstandes“ (Simek).

 

Hatten damals die Germaninnen kunstvolle Flechtfrisuren, so unterschied sich die Völva mit ihren wallenden offenen langen Haaren auch äußerlich von den anderen Frauen - und zeigte damit gleichsam ihre absolute Unabhängigkeit auch durch das ungebändigte Haar. Einige Ausgrabungen belegen das Ansehen der Seherinnen durch die damals seltenen Körperbestattungen, teils sogar im Sitzen und auf Geweihstangen oder unter Geweihen, umgeben von magischen Gegenständen, Resten von Bilsenkrautsamen in Beutelchen, Amuletten, Umhang sowie versteinerten Seeigeln (diese wurden auch Spakonasteen, Stein der Spakona, genannt). Bei jenen Bestattungen war nichts dem Zufall überlassen und sowohl die Körperhaltung als auch die Ausrichtung (wohin das Gesicht „schaute“) war von großer Wichtigkeit - da man davon ausging, dass die Seherin auch nach ihrem Tod dem Stamme hilfreich sei und aus dem Reich der Verstorbenen das Wissen der Ahnen bringe. Auch Katzenfell wurde in jenen Grabstätten gefunden und verweist auf die Katzen, die den Wagen der Göttin Freyja zogen und ihr zugeordnete Tiere sind - eine weitere absolut unabhängige sowie unzähmbare Frau in voller Kraft und Schönheit.  Freyja aus dem Göttergeschlecht der erdverbundenen Wanen brachte die Kunst des Seiðr und lehrte es Odin, den Gott der Ekstase, aus dem himmelsverbundenen Göttergeschlecht der Asen. Die beiden gelten als eine Art „Zauberpaar“: Odin, welcher die Runen brachte und Freyja, die die Kunst des Seiðr hinzufügte. Hier vereinen sich Mann und Frau, Himmel und Erde, Runen und Seiðr zum kosmischen Ausgleich. So ist auch Odin bzw. Wotan sehr mit den Seherinnen verbunden.

 

Der berühmte kleine Anhänger „Odin von Lejre“, welcher 2009 bei Ausgrabungen auf der dänischen Insel Seeland gefunden wurde, zeigt eine äußerst prächtig gewandete Gestalt auf einem detailliert ausgearbeiteten Hochsitz, umgeben von 2 Vögeln - welche jedoch trotz des Namens für dieses Originalfundstück möglicherweise eher eine Völva auf ihrem wikingerzeitlichen Kastensitz denn den Göttervater Odin abbildet.

 

Die Kunst des Seiðr

 

Seiðr verwebt die Methode des Siedens oder Schüttelns, um in Trance zu geraten mit den Bildern der germanischen Mythologie und den Kenntnissen der Kräuterkunde bzw. des Räucherns. Die Seherin wird als barbusig und mit offenen Haaren über einem Kessel den Rauch einatmend und entrückt schauend beschrieben und auch später in der Kunst entsprechend abgebildet. Entweder lehnt die Seherin dabei halb sitzend auf einem dreibeinigen Hochsitz (ähnlich einem Barhocker, jedoch deutlich kunstvoller gearbeitet) oder der Kessel hängt an einem Dreibein. Hier kommen gleich mehrere Symboliken deutlich zum Tragen: der Kessel, die Zahl Drei, der Blick ins Leere.

 

In keltischen Märchen ist der Zauberkessel ein sehr dominantes Symbol und bis heute ein unverzichtbares Utensil der Hexen in Märchen oder der modernen Hexenszene. Der Kessel ist ein Symbol für die Gebärmutter der Frau. In ihm kann etwas gebraut werden - es entsteht etwas. Dies ist auch häufig mit Schwangerschaft assoziiert, jedoch stets damit „etwas ins Leben zu bringen“. Die drei Beine des Hochstuhls oder der Kesselaufhängung stehen sowohl für die drei Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), als auch für die drei Welten (Untere Welt, Mittlere Welt, Obere Welt) und die Dreifaltigkeit (Jungfrau, Mutter, weise Alte) - ebenso wie für das Dreieck als Symbol für die Vulva. Denn nicht zufällig ähnelt der Name Völva dem Begriff Vulva. Pure Weiblichkeit, Sinnlichkeit und Hingabe sind ebenso in ihr wie die Gabe des Sehens. Es ist überliefert, dass die Seherinnen abgeschieden von den anderen lebten, um ihre klare Sicht zu bewahren und unvoreingenommen beraten zu können - jedoch inhalierten sie ebenso Dämpfe aus dem Kessel, um einen entrückten Blick ins Leere zu erlangen und aus diesem „ungenauen Sehen“ zu raunen, zu flüstern. Dieser Blick erzählt uns noch heute von den (für die meisten Menschen unsichtbaren) anderen Welten und der Fähigkeit, den Kopf „auszuschalten“ und (ohne zensierenden Verstand) dadurch zu sehen, zu wissen. Seiðr ist eine uralte schamanische Kunst, und die Bezeichnung „arge Frauen“ für die Seiðkonas ist nicht vergleichbar mit unserer heutigen Bezeichnung arg (böse), sondern bedeutete „hinter die Dinge schauend“. Im Althochdeutschen, Altenglischen und Altschwedischen gab es diverse Bedeutungen für arg: sündhaft, lustvoll, furchteinflößend und auch gefährlich - und wieder stoßen wir auf eine eher wilde sexuelle Komponente. Arg lässt sich etymologisch vom indoeuropäischen Wort ergh ableiten: sich heftig bewegen, zittern, beben, erregt sein - was wiederum ein deutlicher Hinweis auf die Siedetrance wäre, bei welcher man den Körper schüttelt und wiegt. So siedeten die Seiðkonas nicht nur im Kessel ihre bewusstseinserweiternden Dämpfe, sondern auch in ihren Körpern die Visionen und die Klarsicht.

 

 

Mythen als Geschenke unserer Ahnen

 

 

Wann immer ein neues Weltbild aufkommt, versuchen die Befürworter das alte zu verschieben oder zu degradieren. Glücklicherweise wurden viele alte Weltbilder zu einer Art Sedimentschicht von Märchen. Unsere Ahnen haben in Mythen und Märchen ihre Geschenke für uns verpackt und wir können sie bis heute auspacken. So erzählen uns jene Geschichten von den unwirtlichen Gegenden, rauem Klima und Entbehrungen oder Herausforderungen, welche unsere Vorfahren zu bewältigen hatten. Sie verpackten ihren Glauben, ihre Hoffnungen, ihre Ansichten und Tugenden in diese Geschichten - teils verschlüsselt und teils ganz wörtlich. Schamanische Hilfsgeister überlebten in den Mythen als Naturwesen — und der Troll als ein Zauberwesen, das sich verwandeln kann, weist noch heute auf die „Trollkunst“ hin (ein Begriff, den man getrost mit dem Schamanentum in Verbindung setzen kann). Trolle sind große Naturkräfte, mit denen der Schamane oder die Seherin zusammenarbeiten bzw. umgehen konnte.

 

Selbsterkenntnis sowie Visionen in der Natur, Weissagungen mithilfe von Kräutern aus der Natur und schamanische Reisen in Anderswelten mit den Geistern der Natur - unsere Kultur fußt seit der Steinzeit auf einer tief empfundenen und achtsam beobachtenden Naturspiritualität.

 

Auch heute können wir dies für uns nutzen und die Wurzeln dieser Weltsicht, die beileibe nicht gänzlich tot sind (wenn auch sehr verschüttet), für uns wiederbeleben.

 

 

Achtsamkeitsbasierte Naturmeditation als Grundlage

 

 

Wenn wir uns im Wald oder auf einer freien Fläche in den Bergen mit weitem Blick tief in die uns umgebende Landschaft versenken, unseren Blick weich werden lassen und innerlich still werden, erweitert sich unsere Wahrnehmung wie von selbst. Wir weben uns hinein in die Landschaft und ihr Bild, wir werden Teil davon. Nutzen wir hierzu noch Ritualkleidung, mit der unsere Augen oder Ohren verhängt sind oder Ritualobjekte, die unser Gefühl zwischen Himmel und Erde gehalten zu sein, unterstützen, lassen wir uns noch mehr auf diese erweiterte Wahrnehmung ein, die ein anderes Sehen ermöglicht. All unsere Sinne werden wach und lassen uns anders sehen als im Alltag. So kann es leicht geschehen, dass wir uns in die Natur versenken und dabei in die Anderswelt gleiten… „away with the fairies“ (= mit den Feen unterwegs, wie man in Irland sagen würde - zugleich jedoch auch ein Ausdruck fürs Verrücktwerden, ähnlich unserem „sie hört Stimmen“). Dabei ist es einfach die hingebungsvolle Versenkung, die es erlaubt, ganz und gar in der Natur aufzugehen und sich nicht länger von ihr getrennt zu empfinden - gleichzeitig alle Sinne zu erweitern und womöglich eine visionäre Eingebung zu erlangen.

 

Schamanismus, Seiðr, Weissagungen aus Naturbeobachtungen und so vieles mehr sind in unserer Kultur beheimatet und warten nur darauf von uns wiederentdeckt, wieder erinnert und belebt zu werden. Dazu reicht manchmal schon eine Praxis des Utiseta (uti = draußen, seta = sitzen), bei der wir einfach draußen sitzen, uns in uns selbst versenken und Teil der Natur werden, während wir unser Geist aussenden und empfangen. Man könnte auch sagen: Meditation im Wald mit der Aussicht auf eine Vision…

Auf diese Weise können wir alte Wurzeln neu nähren und etwas daraus erwachsen lassen, das uns auch heute trägt!